Mein Opa kommt aus einer kinderreichen Familie. Wenn seine Mutter wieder einmal zwei Wochen lang weinte, wussten die Großen: Da ist wieder was im Anmarsch. „De Vadder muss nur de Underbotz ustrecke“, schimpfte sie und auf Kölsch klingt das heute lustiger als es damals war.
Wenn mein Opa mir all seine Geschwister aufzählt, nimmt er jedes Mal die Finger zur Hilfe: Der erste war Wilhelm, der musste ins Kloster. Der zweite, Reinhard, starb den frühen Kindstod in der Wiege. Dann kam Käthe. Dann kam Martha. Und dann kam Fred, „der war e Chriskindsche“, also für nichts zu gebrauchen. Fred musste keine Hausarbeit machen, der hatte genug damit zu tun, seinen Kopf auf den Schultern zu behalten. Und „zwee hett de Katz jefresse“, Uroma Kölns Euphemismus für zwei Fehlgeburten.
Dann kam mein Opa. Und dann – an dieser Stelle leuchten seine Augen jedes Mal auf – „und dann gab es noch Hans.“ Sein Lieblingsbruder, der buchstäbliche Namensgeber von Hans Dampf-in-allen-Gassen, ein aufgeweckter kleiner Junge, der einen von dem einzigen bekannten Foto mit Lausbubengrinsen anstrahlt. „Die Drei von der Tankstelle“, nennt mein Opa das Bild: unten der kleine Hans mit seinem Käthe-Kruse-Gesicht, mein Opa mit Schiebermütze (und auch sonst schon unverwechselbar mein Opa) und beide überragend, mit entrücktem Blick, Fred.
Hans musste bei der Hausarbeit helfen, genau wie mein Opa. Die beiden waren keine Chriskindsche – und Hans war besonders patent: Wenn er die Wäsche schlagen sollte, in der damals ultramodernen Waschmaschine, die man nur noch kurbeln musste, damit innen windmühlenartige Schlegel auf die Wäsche eindroschen, dann stellte er die Uhr vor und brüllte lange vor Ablauf der eigentlichen 20 Minuten, dass er fertig sei. Damit kam er allerdings nicht durch: Uroma Köln wusch gegen Geld für fremde Leute und wusste ganz genau, wie „fertige“ Wäsche auszusehen hatte.
Mehr Glück hatte Hans beim „Peerdsköttele“ sammeln, also beim Sammeln von Pferdemist, der auf den Straßen damals noch häufig war und im familieneigenen Schrebergarten dringend als Dünger gebraucht wurde. Statt sich mit dem Vollpacken einer ganzen Schubkarre voller Pferdekacke abzumühen, packte Hans die Karre im Handumdrehen voll mit Steinen und Gerümpel, dekorierte das ganze mit etwas Mist und brüllte dann den Vater zur Abnahme heran. Vom Fenster aus gab der seinen Segen auf die vermeintlich randvolle Karre – und Hans konnte spielen gehen.
Am liebsten spielten er und mein Opa zusammen. Und als lange nach Hans die kleinste Schwester Anni geboren wurde, erfand Hans Tricks, um die Aufsichtspflichten für Klein-Anni loszuwerden. Die Schwester in eine Wassertonne zu stecken, kam bei Uroma Köln und ihrem lockersitzenden Kochlöffel nicht gut an. Wenn die drei Kleinsten also mal wieder zusammen losgeschickt wurden, blieb Hans plötzlich stehen, legte den Finger an die Lippen, lauschte angestrengt und sagte dann: „Anni, ich glaub, de Mam hat jerufe! Lauf schnell hin!“ Und während das kleine Mädchen heimrannte, verdrückten sich die beiden Jungs klammheimlich auf den Bolzplatz zum schwesterfreien Spaßhaben. Denn der Kochlöffel würde wieder früh genug kommen.
Hans war patent.
Und ein einziger Mann hat ihn auf dem Gewissen. Einer. Der, der meinen Opa mit gerade mal 18 Jahren an die Front trieb und seinen kleinen Bruder zur Flak – während der Fliegerangriffe Brandbomben löschen auf den Dächern, hoch über der Stadt. Wie so viele andere, die mit ihm kämpfen mussten, hat Hans die letzten Kriegstage nicht überlebt.
Er wurde gerade mal 15 Jahre alt. Ich hätte ihn gern kennengelernt.
Ooohweia. Und doch hat Hans irgendwie überlebt. Bis zu dir. Bis ins Blog. Danke!
eigentlich brauche ich noch viel mehr hans-geschichten. vielleicht werden zu weihnachten noch mal ein paar erzählt.
just do it!
Ich liebe deine alten Geschichten 🙂
ich freu mich immer, wenn ihr genauso gern lest wie ich sie höre! muss weihnachten unbedingt nachschub einfordern.
ein Chriskindsche.. Ich glaub, da kenne ich auch so einige..
ja, die kennt man wohl… das chriskindsche wurde übrigens später fänger am trapez, im zirkus. das wären auch so geschichten…