Ende der Siebziger kauften meine Eltern ein Haus im Moor. Schön und ruhig gelegen, an einem nach ein paar hundert Metern in Gesträuch und Brombeeren versackendem Feld-und-Wiesen-Weg. Zum Haus dazu gab es: einen Schuppen (zum Motorradbasteln für meinen Vater), zwei Katzenbabys (versteckt im Schuppen), einen Hund und die Auflage, sich bei den Nachbarn vorzustellen.
Welche Nachbarn?! Meine Eltern sahen sich um und erblickten doch nur Weiden, Kühe und Moor, so weit das Auge reichte. „Na, dort und dort und dort!“, zeigte die Maklerin in die grüne Weite. „Watzmar, Bullerdiek, Müßing und Remmers, Ihre Landnachbarn – bei denen müssen Sie sich vorstellen.“ Zu sehen waren weder Zaun, noch Schornstein. Aber erstere hat man in Ostfriesland sowieso nicht (sie werden durch exakt manikürte Hecken und einen wie mit dem Aquarellpinsel perfekt grün getuschten Rasen ersetzt) und so zogen meine Eltern Gummistiefel an und machten sich Richtung „dort und dort“ auf den Weg.
Watzmar und Bullerdiek waren schnell erledigt – zum Glück hat man bei den Ostfriesen in Sachen Begrüßungsgetränk andere Sitten als im Emsland, wo sich alle Gäste brüderlich eine Flasche Bier und eine Flasche Korn teilen. Bei den Ostfriesen gibt’s – natürlich! – Tee. Davon hatten meine Eltern vermutlich schon reichlich intus als sie bei Remmers in die Küche gebeten wurde. Aber natürlich kam auch hier eine ordentliche Tasse Schwarztee mit Kluntjes und Sahne auf den Tisch. Und wehe dem, der umrührt!
Aus dem nachbarschaftlichen Plausch wurde schnell eine Einladung zum Polterabend, denn meine Eltern wollten in den nächsten Wochen heiraten. Und anstatt hier nur kurz zum Trinken und Porzellanzerschlagen vorbeizuschauen, zeigten die neuen Nachbarn meinen Eltern auch hier wie die ostfriesischen Sitten aussehen: Vor die Tür gehört ein selbstgewundener Kranz samt Girlanden, in den Garten jede Menge flatternde Babywäsche auf die Leine und ins Haus viel Hallo. Getrunken und Porzellan zerschlagen wurde natürlich auch. Und zwar reichlich.
Danach waren meine Eltern eingemeindet: Als kurz nach dem Polterabend erst Müßings Frau und dann Uroma Remmers starben, wurden sie ganz selbstverständlich zu den folgenden Totenritualen herangezogen. Meine Mutter musste den Trauergästen Schnaps ausschenken und mein Vater hatte mit den anderen Männern den Sarg zu tragen. Offen. Nur zum Totengebet in der Kapelle mussten sie nicht mit – „ihr seid ja nicht katholisch.“
Das war auch das Einzige, bei dem sie ausgeschlossen wurden: Remmers hatten schon vier Söhne und eine Tochter, da fielen zwei zusätzliche Kinder nicht weiter auf. Und als ich fünf Jahre nach der Hochzeit geboren wurde, war ich Enkel Nr. 2 – als meine Mutter noch arbeitete, holte mich Oma Binchen morgens über die Weiden zu sich in die warme Küche und Opa Johann schob mich im Kinderwagen ums Haus bis ich einschlief. „Das hat er bei seinen Kindern nie gemacht“, grinste Oma Binchen.
Als ich ein halbes Jahr alt war, verkauften meine Eltern das Haus im Moor. Es gab einen tränenreichen Abschied, weil Oma Binchen dachte, dass sie ihre Tochter-by-heart samt Enkelzwerg nie mehr wiedersehen würde. Doch seit über 30 Jahren fahren meine Mutter und ich jedes Jahr mindestens einmal zurück nach Ostfriesland. Blut mag dicker sein als Wasser, aber Ostfriesentee ist noch viel süßer.
PS: Wiedererkannt? Der Holzschnitt zeigt natürlich das Haus der beiden Alten aus „Hinter der Wand“. Ich liebe diesen Ort so sehr, dass ich immer versuchen wollte, ihn per Schrift und Wort wenigstens in meinem Kopf für immer zu erhalten.