Meine liebste Bahnbekanntschaft ist und bleibt der weißhaarige Koboldmann, der gegen Mitternacht mit einem großen Messer in meiner U-Bahn saß und fröhlich an einem noch größeren Knüppel herumschnitzte: Wir führten ein freundliches Gespräch über den Entspannungswert von Hobbies. Als Ex-Buchhändlerin verdrehe ich mir außerdem den Hals, bis ich den Titel einer Mitfahrerlektüre entziffern kann. Wobei mir einfällt… wo ist eigentlich die Lesefrau mit den Vampirpornos und den gelegentlichen Paasilinnas vom letzten Sommer geblieben?
Manche Leute starrt man einmal an und vergisst sie wieder, andere begegnen einem regelmäßig und man starrt trotzdem. Fräulein Smilla ist so ein Beispiel. Sie hat zwar kein Gespür für Schnee (obwohl, wer weiß), aber ich nenne sie so, weil mich ihre fahle Gesichtsfarbe auf den ersten Blick tierisch erschreckt hat. Inzwischen bin ich fasziniert von ihr: In ihrem breiten Gesicht, das wie ein auf der Spitze stehendes Viereck erscheint, glühen unter straff zurückgekämmten Haaren unerwartet dunkle Augen. Sie sieht aus wie das Portrait einer russischen Zarin in Alltagsklamotten.
Dann gibt es da noch den Barttypen und seine Lady. Steht er allein auf dem Bahnsteig, finde ich ihn eigentlich ganz sympathisch – groß, bärig, unauffällig. Ist seine Freundin dabei, trägt er eine regenbogenfarbene Inkamütze, massiert Schultern und purzelt um sein Mausi herum, dass man kaum hinschauen kann. Apropos nicht hinschauen: Es war nicht seine grausame Kopfbedeckung, die mir zuerst wie ein Dorn ins Auge stach. Sondern die Sitzhaltung von Mausi: Obwohl sie immer Röcke trägt, hockt sie breitbeinig da wie ein Bauarbeiter am Freitagmittag. Mit freier Sicht auf alles. Oder nichts, weil zum Glück Winter und dicke Strumpfhose, aber auf jeden Fall auf zuviel.
Das alles ist allerdings nichts gegen Mr. Selbstfraß. Ich gebe zu, ich bin empfindlich, wenn Menschen ihre Badezimmervorgänge in der Öffentlichkeit erledigen. Schminken – okay, da beobachte ich mit wachsender Spannung den Kampf zwischen Bahnruckeln und grader Linie. Ohrenbohren, Nasepulen, Haarekämmen… das möchte ich lieber nicht sehen. Aber Mr. Selbstfraß ist ein Härtefall. Wir sehen uns nur alle paar Wochen und jedes Mal wundere ich mich, dass er noch relativ komplett ist. Denn Fingernägel, Nagelhäute und Schlimmeres ist bei ihm nahezu völlig verschwunden und die kümmerlichen Reste werden unausgesetzt heftig bearbeitet. Der ganze Mensch sieht von Augenbraue bis Hosensaum eigentümlich angebissen aus. Kahl, irgendwie.
Um bei seinem unappetitlichen Tun nicht selber das Nägelknabbern anzufangen, hab ich manchmal schon die Augen schließen müssen. Heute nicht. Heute musste ich die ganze Zeit auf ein kleines Graffiti starren, das jemand hinter ihm an die Scheibe gezimmert hatte, und leise in meinen Schal kichern: „Hobbit“ stand da.
Und Mr. Selbstfraß schaute mich irritiert an und dachte vermutlich daran, wie froh er sein würde, wenn die bekloppte Alte gegenüber endlich ausstiege.
Garstiger, fetter Hobbit.
Immer gut ist die U8.
hobbitse, mein schatzzz!
Herrliche Beschreibungen. Das reinste Wonnesonnevergnügen. 😉
vielen dank 😀
Der Koboldmann scheint mir einem Buch von Herbert Rosendorfer entsprungen. Dort heißt er „Burschi“. U8 ist die Härte. Ich nenne sie „Achse des Elends“. Vom runtergekommenen Wedding zum runtergekommenen Neukölln.
… und das zu recht 😀
kennst du die morgende in der bahn, wo alles und jeder aussieht wie elfriede jelinek?
oh ja. oh ja! kommt auch gern mal nachts vor (ich denke da speziell an die 2,10-transe mit dem krankenschwesternoutfit und den plüschtieren).
als ich anfang 1971 nach berlin (west) kam, hatte ich,
abgesehen von ein paar idioten (kollegen) aus meiner zeit
in berufsausbildung und bundeswehr, noch keinen dieser
sogenannten „typen“ kennengelernt.
in der großen stadt änderte sich das dann ziemlich schnell.
es sind mir aber nur zwei „abweichler“ aus meiner berliner frühphase
in erinnerung geblieben: zum einen dieser ältere typ,
der in der u-bahn saß und in einem längst aus der mode gekommenen
kursbuch der reichsbahn blätterte. darin gelesen hat er sicherlich nicht,
denn er hatte das buch auf dem kopf stehen.
zum anderen diese letztens erwähnte nackttänzerin im „limit“ –
für uns jungs aus der provinz war das zu dieser zeit tatsächlich noch
etwas aufsehenerregendes.
das leben in berlin brachte innerhalb weniger wochen mit sich,
daß man toleranter wurde im umgang mit seinen mitmenschen.
da fielen „abweichungen vom normalen“ nicht mehr sonderlich ins gewicht.
und: was war das eigentlich – normal ?
man mußte erkennen und sich eingestehen,
daß all diese kleinen wunderlichen menschlichen eigenarten,
inklusive seiner eigenen, das normale sind.
die grinsekatze aus „alice im wunderland“ (kapitel 6) stellte sich vor.
die, die alice gegenüber behauptet, sie seien „hier nämlich alle verrückt“
und das wie folgt begründet:
“Wenn du es nicht wärest … dann wärest du nicht hier.”
und ich erinnerte mich daran, bei hermann hesse gelesen zu haben,
daß das leben außerhalb der irrenanstalten nicht minder drollig sei
wie im inneren.
und so war es dann ja auch, tatsächlich, im endeffekt.
so ist es, in der tat. berlin, das wunderland.