Norderney oder 5 Tage Inselpunk.

IMG_20141113_133355_resizedIn den vergangenen fünf Tagen habe ich meinen ersten Urlaub seit über zwei Jahren genommen – ohne Internet, ohne Arbeit, ohne Begleitung. Na gut, das Manuskript zu „Drei Worte“ hatte ich dabei… aber sonst gar nichts. Nur Gummistiefel, dicke Socken und warme Pullover.

Und genau das war sehr großartig.

Einen Tag Sonne, einen Tag Novembergrau, einen Tag Wind, einen Tag so viel Nebel, das man die Hand nicht vor Augen sehen konnte.

Meine einzigen Programmpunkte: mindestens zwei Mal täglich ausschweifend spazierengehen und Strandgut sammeln, schreiben, lesen, essen, schlafen. Mit niemandem sprechen – außer hier und da ein paar freundliche Worte mit der älteren Dame, in deren Haus ich meine Ferienwohnung hatte.

IMG_20141112_203834_resizedWas ich am Strand fand:

  • jede Menge Steine: schwarze, knallrote, weiße, schwarz-weiße, durchlöcherte, glatte… ich könnte daraus ein Haus bauen
  • rostige Eisendinger mit Muschelgarnitur
  • jeden Tag eine noch größere Austernmuschelschale
  • mit Salzwasser vollgesogenes Treibholz, das zuerst ganz schwer und krümelig und dann beim Trocknen leicht wie Y-ton wurde
  • eine fette, stachlige Raupe, die kein Hinten und kein Vorne hatte und bei der ich hoffentlich mit dem Wurf ins Meer die richtige Entscheidung traf (vielleicht war es auch ein tropischer Engerling im Wintermantel, der froh war, dem kalten Wasser entronnen zu sein)
  • einen winzigen Seestern, der noch lebte und mit seinen kleinen Tentakeln ruderte und bei dessen Rettungsversuch ich ein feines Bad in der Nordsee nahm
  • eine vom Salz fast vollständig zerfressene Konservendose, bei der nur noch die Rippen standen und bei deren Anblick ich irgendwie zu der Überzeugung kam, dass bei einer Apokalypse nicht die Menschen überleben werden

IMG_20141112_193007_resizedWas ich außerdem sah:

  • Seehunde auf einer Sandbank
  • Möwen, die sich im Flug mit den Füßen am Kinn kratzen
  • einen Hund, der aussah wie ein Schaf, und ein Schaf, dass sich wälzenderweise den Rücken kratzte
  • eine halbe Trilliarde Dünen-Kaninchen
  • das Klingelschild meiner Vermieterin – was ja an sich nichts Besonderes ist, schließlich bin ich jeden Tag mindestens zwei Mal raus und rein zur Tür. Was mich rührte, war, dass sie – mit Namen Alice (also gutdeutsch „Alitze“, nicht etwa „Äliss“) – auf dem Klingelschild immer noch das „J.“ ihres vor Jahrzehnten verstorbenen Mannes stehenhat. In seiner Schrift.

Knochenkalle traf ich übrigens nicht. Sein Häuschen war verschlossen und die Werkstatt sorgsam ausgefegt, soweit ich das durchs Fenster sehen konnte. Einmal dachte ich, er wär es, der am Strand mit Watthosen und langen Angeln im Meer stand, aber ich irrte mich. Vielleicht braucht man bei Nebel keine Särge.

IMG_20141113_133136_resizedStattdessen habe ich viel geschrieben. Und war zwei Mal im Badehaus, wo ich (wie auch am Strand) jede Menge Opis mit meiner Haarfarbe glücklich machte. Und nicht nur die: Ab der zweiten Begegnung riefen mir die Dachdecker von nebenan ein erfreutes „Moin!“ nach, ein Kapitänsmützenträger konnte vor Begeisterung über die „tollen Haare“ kaum noch weiterradeln und die komplette Freiwillige Feuerwehr war bei ihrem wöchentlichen Umtrunk im Old Smuggler Feuer und Flamme über das „lebende Streichholz“. Es fehlte wahrlich nicht viel und sie hätten mich gelöscht.

Vielen Dank, Jungs. Nach der „mir ejal, weeßte“-Mentalität Berlins tat es ganz gut, mal ein paar Tage Inselpunk zu sein.

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17 Gedanken zu “Norderney oder 5 Tage Inselpunk.

  1. kaetheknobloch schreibt:

    Schön liest sich das. Geerdet und zum Vertikaldurchathmen* geeignet. Und nachträglich ein Hoooray von mir zum Druck! Ich war mal wieder zu spät für die Fete, Du warst schon weg. Grüße an das Flammenköpfchen, Deine Käthe.
    *© Michael Feuser

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