Wenn man unsichtbar ist.

Als ich am Hermannplatz in die U8 steige, sitzt mir gegenüber ein junger Mann. Hornbrille, Wollmütze, der Boden der viel zu engen Hose hängt viel zu tief zwischen seinen Knien: Ich würde ihn abfällig einen Hipster nennen. Wenn er nicht ein kleines, beigefarbenes Moleskine in der Hand hätte, in das er offensichtlich zeichnet.

Er wirft immer wieder Blicke auf jemanden, der ein paar Plätze weiter neben mir sitzt. Ganz konzentriert und so unauffällig wie möglich schaut er dieser Person ins Gesicht, um dem Bild in seinem Notizbuch die nächsten Striche hinzuzufügen. Er ist so vertieft in seine Arbeit, dass er kaum bemerkt, dass die Bahn anfährt und ruckelt. Bei jedem Halt schreckt er erst auf, wenn Leute einsteigen, verrenkt sich den Hals nach der Stationsanzeige und mustert dann ganz genau die Gesichter der neuen Mitfahrer. Er scannt sie, an keinem scheint er etwas Besonderes, etwas Malenswertes, zu finden, denn gleich darauf konzentriert er sich wieder auf sein altes Modell.

Ich würde so gern wissen, wen er malt, warum er ihn malt – oder sie -, und was er in den Gesichtern der Leute sucht. Und dann, wwischen Heinrich-Heine-Straße und Jannowitzbrücke, begegnen sich unsere Blicke.

Er schaut mich an, ich überlege, was er wohl sehen könnte – ob er etwas sieht.

Er lächelt, ich schaue weg, verlegen, aber aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie er sein Notizbuch in meine Richtung dreht. Er setzt die ersten skizzenhaften Striche aufs Papier, doch an der Jannowitzbrücke steige ich aus. Bedauernd.

Wenn man unsichtbar ist, hilft es nichts, dass einem feierabendfeiernde Bauarbeiter kurz vorm Delirium nachpfeifen. Es hilft nicht, wenn einen innerhalb von fünf Minuten sechs Neuköllner mit Migrationshintergrund und/oder Drogengegenwart auf die roten Haare ansprechen und einem an Ampeln nachgehupt wird. Eigentlich hilft überhaupt nichts.

Ich hätte jedenfalls nie gedacht, dass es ein Hipster sein würde, der helfen könnte.

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31 Gedanken zu “Wenn man unsichtbar ist.

  1. magguieme schreibt:

    die Geschichte lädt mich zum Träumen ein… nichts wird aus der Jannowitzbrücke, sie bleibt, er strichelt weiter; keine Worte, aber eine gemeinsame Reise in der Unsichtbares so deutlich wird, wie es nur Hipster-Augen in ruckelnder U-Bahn finden können;

  2. Kelly Zehe schreibt:

    ich weiss, dass ein Hipster mal einem Rock’n’Roller aus Seenot geholfen hat. Auf der Spree, Nähe Badeschiff. Erzähle ich Dir nächstes Mal!!! 😉

      • Ben Froehlich schreibt:

        Ja…was ist mit dem ehrlichen Lächeln? Ist immer ein guter Anfang 😀

      • Blarksel schreibt:

        Möglicherweise sehen diese Menschen das, was man selbst an sich nicht sehen will, was man unterdrückt. Und möglicherweise gehörst auch du dazu. Manche Menschen können ’sehen‘ – andere nicht. Und schließlich sind dafür nicht nur die Augen da. ;o) — Wo der Großteil in Schubladen wühlt und unter Vorurteilen kramt, schaffts ein geringer Teil wohl, hinter Fassaden zu sehen; auch wenn die Fassade selbst als ‚Unsichtbarkeit‘ getarnt wird.. :o)

      • rocknroulette schreibt:

        mit sicherheit gehört man selber auch dazu – umso wertvoller die kleinen momente, in denen man tatsächlich mal die augen aufbekommt.

    • rocknroulette schreibt:

      man kann über die BVG ja sagen, was man will… aber ich hatte hier schon diverse spannende begegnungen: weise ratschläge gab es von betrunkenen und einem stöckchenschnitzenden opa, zweimetergroße weißclown-dragqueens, exhibitionisten leider auch, goetherezitierende motz-verkäufer und alles andere dazwischen mehrfach und in allen ausprägungen.

    • rocknroulette schreibt:

      man neigt ja generell bei allen fremden menschen zu denken, dass die alle dumm & stumpf sind… viel zu selten bekommt man die gelegenheit, mal hinter das u-bahn-gesicht zu gucken (und wie oft gibt man selbst anderen diese gelegenheit?).

  3. MAXPAHL schreibt:

    Aus eigener, lange zurückliegender Erfahrung: Meistens sucht man beim Zeichnen an öffentlichen Orten nicht primär etwas Besonderes, sondern freie Sicht, einen passenden Abstand zum Papier und jemanden, der sich nicht allzu viel bewegt. Und man hofft, dass die Person einen möglichst lange nicht bemerkt, damit man Ruhe hat. Und so viel man sich auch auf die Sache konzentriert, man posiert letztlich vor allem für die anderen (,die dann manchmal sogar kleine Geschichten über einen schreiben).

    • rocknroulette schreibt:

      und dann kommst du und haust mit dem hammer auf die illusion – PÄM 😀 schon ist der hipster wieder ein geltungssüchtiger wollmützenhornbrilly und ich nur ein unbewegliches objekt in gebührender entfernung…

      • MAXPAHL schreibt:

        Falsch! – Ich sagte, man kann es als Zeichner in der Öffentlichkeit nicht vermeiden, selbst zu posieren, auch wenn man eigentlich nur zeichnen üben will. Mich hat das immer gestört – ihn vielleicht auch. Keine Ahnung. Jedenfalls kauft man die eigene Pose sozusagen immer mit.

        Und unabhängig vom Zeichnen hat er ja gelächelt!

      • rocknroulette schreibt:

        war auch nur ein scherz. mir geht es mit dem fotografieren immer so… ich würde viel mehr & lieber bilder machen, wenn es unsichtbare kameras gäbe – oder welche, die man sich ins auge klemmen könnte.

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