Rezension: „Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende“.

Eigentlich war dieser Artikel als BLN.fm Nr. 3 geplant. Tatsächlich häufen sich Arbeit und Schreibprojekte in diesen Tagen, wenn ich auch nur ein Minimum an Sozialleben behalten will, muss ich Grenzen setzen. Diese Schlussfolgerung sollte eigentlich keine Überraschung sein: Schon die Ersten, die nach der Wende im neuen Mitte die Grundsteine für die heutige Party- und Kunstkultur Berlins legten, wussten, dass immer nur eines geht: Schreiben, Erzählen und Dokumentieren – oder Feiern, Kunst und pralles Leben. In seinem Buch macht sich der Journalist Ulrich Gutmair auf Spurensuche abseits des Konsums: Er erzählt von den Partypionieren und dem neuen, alternativen Leben im wiedervereinten Berlin.

(c) Tropen-Verlag

(c) Tropen-Verlag

Das bunte Leben aus dem Nichts

Als die Mauer fällt, ist in West-Berlin nichts los. In Kreuzberg sitzen die schwarzgekleideten Bürgerkinder schwadronierend in den Cafés und kiffen: Ihre Kunst ist vor allem die Regungslosigkeit. Tatsächlich kommt der Anstoß zur Bewegung aus der kriegsversehrten und geteilten Mitte der Stadt: Aus Brachen, verlassenen Wohnungen und armseligen Abbruchhäusern, die sich durch kreative und neugierige Eroberer fast über Nacht vom grauen Osten in Clubs, Kommunen und alternative Lebenskonzepte verwandeln. „Die Bewohner der alten Vorstadt haben über Generationen hinweg ein Misstrauen gegenüber den Autoritäten entwickelt“, die „proletarische Mentalität des alten Berlin“ (S. 96) verbindet sich mit der Aufbruchsstimmung und es entsteht ein „Möglichkeitsraum“: „Es war im Osten auch viel interessanter. Man konnte sich die besten Häuser aussuchen und zahlte keine Miete. Man konnte an schönen Orten leben, Hausgemeinschaften gründen und Kunstprojekte machen, statt alleine in Westberlin in einer Wohnung zu sitzen“ (S. 47), so formuliert es die Spanierin Raquel Eulate.

Party ohne Regeln

„Die ersten Tage von Berlin“ heißt das Buch aus dem Tropen-Verlag, denn kurz nach der Wende schaffen die Hausbesetzer und Künstler, Galeristen und DJs, das Partyvolk und die Querdenker die flirrende, freie und kreative Atmosphäre, von der Touristen heute schwärmen – und auf der sich die ganze subkulturelle Kunst- und Clubszene aufbaut: „Noch Jahre lang kann man sich beim Betreiben von Clubs und Bars (…) darauf verlassen, dass die Polizei die neuen Regeln noch nicht verinnerlicht hat“ (S. 105) – wenn ich an knietief versiffte Klos und Clubs ohne Notausgang denke, scheint das immer noch zu stimmen.

Aber das Abgeranzte macht den Charme ja erst aus und gerade das Improvisierte, Abbruchhafte etabliert sich: „Ein bisschen unaufgeräumt, aber bunt. Leicht ruinös, aber lebendig. So stellt man sich überall auf der Welt Berlin vor.“ (S. 27) – der Mythos macht den Mythos.

Fakten, Anekdoten und Politikunterricht

Gutmair widmet sich den Fakten: Er verbindet in seinem Buch historisches Material mit Gesprächen der Akteure von damals, er erzählt die Geschichte des Tacheles, der Besetzer in der Mauerstraße und von Berliner Originalen wie dem Obdachlosen Klaus Fahnert. Dazwischen klemmt er ein paar DDR- und Politik-Lektionen. Ganz chronologisch geht er dabei nicht vor – aber dafür unterhaltsam. Man erfährt vor allem Details – etwa wurde man zum rechtmäßigen Mieter einer Wohnung, wenn man sich der leerstehenden Fläche bemächtigte, den Vermieter ausfindig machte, drei Monate lang Miete zahlte und anschließend einen Vertrag einforderte.

Die Abwesenheit von Bildern in Gutmairs Buch könnte man bemängeln – tatsächlich ist dies Teil der damaligen Kultur: Es wird nicht dokumentiert, es wird gefeiert. Das gilt auch für Kunst – der Übergang zwischen Party und Kultur ist ohnehin fließend. Nichts wird archiviert. Es ist die Gegenwart, die lebt – nicht die Erinnerung, die zelebriert wird.

Feiern, Foto, Facebook!

Eigentlich das komplette Gegenteil von dem, was unsere Generation so gewohnt ist: Heute geht ja anscheinend nichts mehr ohne Online-Kanäle. Ich habe unter Freunden aus diversen Szenen von Metal bis Rockabilly rumgefragt, und da läuft das Partyleben fast komplett über virtuelle Wege. Neben Whazzapp wird Facebook als wichtigstes Kommunikationsmittel bei Planung und Verabredung mit Freunden genannt. Aber damit hat sich in Berlin eigentlich nichts geändert: „Die Nachwendegesellschaft ist eine orale Kultur“ (S. 82) – ob Flyer und Grafitti oder Posting und Messenger spielt im Prinzip keine Rolle.

Was sich jedoch unterscheidet, ist die Art der Dokumentation: Heute sind Posts wie „Ringel Piez ist mit Paulchen Panther und Tante Emma hier: katerholzig“ an der Tagesordnung. Wer mit wem wo ist und was getan hat, weiß dann auch der Stubenhocker – ohne mit einem einzigen Partygänger gesprochen zu haben. Manchmal kann man ganze Abende – vom ersten Cocktail in korrekter Pose bis zum Zusammenbruch in der Gosse – per Foto und Facebook beinahe zeitgleich miterleben.

Spaß oder Spaßdarstellung?

Hier gehen die Meinungen jedoch auseinander: Während bei den einen „Posing alles“ ist und immer fleißig geknipst und geteilt wird, formuliert ein Kollege: „Ich nutze das iPhone nur, wenn‘s eine langweilige Party ist. Bei Mörderfeiern vergesse ich, Bilder zu schießen.“ Das macht gerade ein wenig nachdenklich – und spricht für die Bilderabwesenheit in Gutmairs Buch. Andere Grundsätze hingegen gelten wohl damals wie heute: „Zu feiern heißt sich zu verschwenden, freigiebig mit sich und seiner Zeit umzugehen.“ (S. 20) – 40 Stunden Berghain, ick hör dir trapsen.

Egal. Ich bin kein Nachwende-Raver und Facebook hab ich wegen Work-Life-Media-Balance grad reduziert. Mein Gutmair-Lieblingssatz ist denn auch ein anderer: „(…) im Unterschied zum Westen kann man in Ostberlin das Leben im Abseits ohne ökonomischen Druck auskosten“ (S. 85) – das finde ich gerade äußerst reizvoll. Etwas tun, etwas schaffen, leben – und das ohne Geld-Karriere-Haltbarkeitsanspruch. Das ist das, was mir als Eindruck nach der Lektüre bleibt: Die ersten Tage von Berlin waren eine Zeit der Kreativität und der Freiheit.

Fazit

Wenn man will, kann man sich überall Freiräume schaffen – ob im Abbruchhaus oder zwischen Schlafen und Arbeit. Und dieses Buch ermutigt neben all den unterhaltsamen Anekdoten auch zum Neu- und Andersdenken. Lesen lohnt sich also.

Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin – Der Sound der Wende. 3. Aufl. 2013, 256 Seiten, Klappenbroschur, 12 s/w Abbildungen. ISBN: 978-3-608-50315-9. 17,95 €.

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