Ich bin gelernte Buchhändlerin. Um die üblichen Reaktion vorwegzunehmen: Ja, das kann man lernen, und nein, das ist nicht das mit den Zahlen. Und ja, jemand muss wissen, wo die Bücher überall stehen. Aber nicht nur.
Wer sich schon einmal vom einem guten Buchhändler hat beraten lassen, weiß, dass der nicht nur profunde Standortkenntnisse besitzt. Sondern auch ein derart gesundes Halbwissen über 85% Buchinhalte. Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosgkeit gehört zur Berufsbeschreibung: Man muss das Buch nicht gelesen haben – es genügt, Autor, Verlag und Rezensionswissen wortreich zusammenzuzählen. Denn das alles als Wissen (und samt Buch) zu verkaufen, gehört zu den kleinen Freuden des niederen Dienstpersonals. Aber zurück zum Thema, bevor ich meinem Ex-Berufsstand an der Ehre kratze.
Kunden übers Glatteis zum richtigen Buch zu führen, ist zum Glück nicht alles. Zur Ausbildung gehören u.a. auch Literaturgeschichte und Verkaufspsychologie dazu. Alles in allem: Ein vielseitiger Job. Perfekt, wenn man „gerne liest“.
Mit dieser Begründung haben sich in unserer Berufsschulklasse auch etwa 98% der angehenden Buchhändler vorgestellt. Daneben gab es allegemeinen Hass auf Zahlen (anders als Buchhalter sind die meisten Buchhändler äußerst zahlenabweisend, was BWL, Recht, Lagerhaltung, und Buchhaltung zu den Horrorfächern macht).
Meine Ausbildung habe ich in der damals größten Buchhandlung in Hannover gemacht – Schmorl & von Seefeld waren damals noch ein eigenständiges Unternehmen, heute gehört es zur Hugendubel-Kette. Aber ob Familienunternehmen oder Filiale – nach wie vor ist es die erste Anlaufstelle…
… für verzweifelte Schüler auf der Suche nach Lektüre für den Deutschunterricht die unter Aufbietung aller Erinnerung nach „Die Leiden des jungen Pferdes“ oder „Nazis in Dortmund“ fragen.
… oder für geneigte Buchkäufer, die sich nicht mehr an Titel und Autor erinnern: „Es war blau, ungefähr soo dick und um Weihnachten herum lag es vorn auf dem Tisch!“
… oder für ganz Engagierte, die ihr Buch am liebsten selbst jagen und finden wollen: „Warum sortieren Sie die Bücher nicht nach Ländern/Größe/Farbe?“ Ich erspare mir die Aufzählung aller Antworten, die dem Buchhändler dabei auf der Zunge liegen. Und vielleicht sollte man das tatsächlich in Erwägung ziehen, denn damit ließe sich die Frage nach dem „soo dick und blau“ immerhin leichter beantworten. Ebenfalls ein Klassiker: „Stehen die alphabetisch? Ja? Nach Vor- oder Nachnamen?“.
Wenn das Buch trotz verwirrend alphabetisch und fachlich orientierter Sortierung endlich gefunden ist, führt der Weg nach draußen idealerweise erst Richtung Kasse – ungeachtet der Tatsache, dass in großen Buchhandlungen jährlich der Gegenwert eines Einfamilienhauses als Diebesbeute verschwindet. Aber wo ist dieses vermaledeite Kassier-Ding nur?
Als Buchhändler kann man auf die beliebte Frage „Sind Sie die Kasse?“ nur mit den Schultern zucken. Wenn man eine Schublade unterm Pulli hat und einem die Bon-Rollen aus den Ohren gucken, kann es schon zu Verwechslungen kommen.
Wenn man sich wie ich am Info-Pult der Geldannahme standhaft verweigert, werden manche Kunden jedoch ungnädig: Auf ein knappes „Sind Sie die Kasse?“ antworte ich freundlich, dass er diese gegenüber vorfinde. Der Kunde stutzt: „Ach, dann packen Sie das Buch hier als Geschenk ein!“ – „Nein, das machen die Kollegen im EG.“ Völlige Entgleisung der Kundengesichtszüge, gepaart mit echter Fassungslosigkeit: „Ja, was machen Sie dann überhaupt hier?“
Das habe ich mich schließlich auch gefragt. Und den Job gewechselt.
Wenn ich heute sage, dass ich Buchhändler bin, bekommen die Bibliophilen in meinem Freundeskreis immer noch große Augen und können ihr „Oh, wie schön!“ kaum unterdrücken. Ja – Buchhandel ist schön. Schaufensterpräsentation, Tischgestaltung, auf- und einräumen, Begegnungen mit netten Autoren (Ulrich Wickert und – etwas strenger duftend – Wolfgang Hohlbein, Ulla Hahn und Ingrid Noll), Vertretergespräche und Wareneinkauf… oh ja.
Aber nicht umsonst gibt es ein Sprichwort, das meine drei Jahre Ausbildung und zwei Jahre in meiner eigenen Abteilung in der Berliner Buchhandlung Lehmanns am Ernst-Reuter-Platz wie in Stein gemeißelt zusammenfasst: „Buchhandel wäre so schön – ohne Kunden.“
Denn die bringen nicht nur das Geld und bescheren einem abstruse und wunderbare Beratungsmomente, sondern schütten auch hemmungslos private Geschichten und privaten Frust über dem wehrlosen Buchhändler aus. Tätliche Angriffe von geistig beschädigten Omis, aggressive Junkie-Buchklaus, sich übergebende Kleinkinder ohne elterliche Aufsichtspersonen, hemmungslose Arroganz frischgebackener Studienanfänger, schreiende Frauen nach dem Ehekrach… wenn mittwochs die Ärzte geschlossen haben, frage Sie Ihren Buchhändler oder Bibliothekar.
Oh nein. Ohne mich.
Mittlerweile ist meine Ausbildung fast zehn Jahre her. Danach habe ich – typisch Buchhändler mit ohne Lust auf direkte Berufstätigkeit – Germanistik studiert. Wenn ich heute in eine Buchhandlung gehe, genieße ich die Illusion von Ruhe (wenn gerade weder Junkies oder Kleinkinder über die Ladenfläche toben) und nervtöte den Buchhändler.
„Nein, es war eher blau, der Autor war kein Amerikaner und etwas von Bastei Lübbe will ich schon gar nicht… wissen Sie überhaupt, wo die Bücher stehen?“
Spaß beiseite. Es gibt drei Sorten Kunden. Die Gelben: Sie sind freundlich, sehr verständnisvoll, wenn der Buchhändler mal etwas nicht weiß, und zu Feiertagen bringen sie einem Schokolade mit. Der Nachteil: Sie können sich einfach nicht entscheiden, wenn es ans Kaufen geht. Lieber das Taschenbuch oder doch das Hardcover für Tante Elli? Lieber den ADAC- oder doch den DuMont-Reiseführer für Paris? Oh weh, oh weh. Drama über Drama.
Ganz anders die Roten: Sie strafen jedes Unwissen mit Verachtung, kleine Fehler haben cholerische Ausbrüche zur Folge, aber sie kaufen. Bergeweise. Und ohne genau hinzuschauen. Sie schaffen Umsatz – und schreien den Laden zusammen, wenn sie einen Fehlkauf zurückbringen.
Ich bin ein blauer Kunde: Ich habe alle Informationen über mein Wunschbuch vorher zusammengetragen und ich freue mich über tiefgehende Fachgespräche. Allerdings lasse ich mich nicht mit Larifari-Beratung abspeisen. Dann greife ich doch gern in die Zitatenkiste: „Sind Sie die Kasse? Packen Sie mir das als Geschenk ein? Nein? Was machen Sie denn überhaupt hier?!“