Gerockt, nicht geschüttelt #10: Berlin ist ja bekannt für seine Luft. Und die kann man hier quer durch alle Jahrzehnte schnuppern. Bei Fifties-Partys wird mit Petticoat und Tolle gerockt und gerollt; mit der legendären Bohème Sauvage geht es für einen Abend in die Golden Twenties.
„Eine Hommage an das Berliner Nachtleben der Zwanziger Jahre“, so lautet der Untertitel der Partyreihe, welche die „Gesellschaft für mondäne Unterhaltung“ alle paar Monate neben Hamburg, Köln und Wiesbaden auch in Berlin veranstaltet. Authentizität ist das Motto und die Regeln für die Teilnahme sind hart: Keck und adrett soll es sein, vom Diva- und Moulin-Rouge-Look bis zum Ganoven- oder Gigolo-Chic ist alles erlaubt. Wer Jeans trägt oder Turnschuhe, Plastikperücken oder schrille Glitzerartikel aus der Grabbelkiste, kommt nicht einmal durch die Tür.
Also beginnen auch meine Vorbereitungen für die Zeitreise im Grünen Salon an der Volksbühne schon Tage vorher. Der erste Weg zum Kleiderschrank zeigt nichts als Mangel: Einen Petticoat habe ich mittlerweile, dazu Bandshirts und alltagstaugliche Jeans in Mengen, aber damit ist Ende.
Auf zum Kostümverleih! Bei Bonnie & Kleid in X-berg wühle ich mich erfolglos durch den bereits abgegrasten Fundus mit Flitterkleidern und -Hüten – scheinbar hat sich die gesamte Bohème Berlins hier bereits eingekleidet. Zum Glück vererbt mir eine Freundin ein schwarzes Kleid mit sündigem Diva-Ausschnitt und Flatterärmelchen. Und weil wir ja erfinderisch sind, bauen wir aus Federkopfschmuck und flachem Hütchen auch gleich eine 20er-taugliche Kopfbedeckung. Ohne Schleier zwar, aber frau kann eben nicht alles haben. Die passenden Riemchen-Schuhe und falsche Perlenketten in rauen Mengen sind bloße Formsache, es folgen Anmalen und Aufrüschen im großen Stil – und los geht’s!
Bereits am U-Bahn-Ausgang begegnen uns zwei Gentlemen in Verbindungsmontur, die uns mit gezogener Mütze grüßen. In moderner Zeit hätte ihr: „Dürfen wir den Damen Begleitung antragen?“ eher nach „Ey, wissta, wo diese Party is?“ geklungen, aber in galaneske Höflichkeit verpackt kann der Gentleman eventuelle Unkenntnis der Weges sehr viel besser verpacken.
Angekommen, werden wir Vier anstandslos eingelassen – im Gegensatz zu den drei Jeansmädchen vor uns, die ihre H&M-Bekleidung nur notdürftig mit ein paar Perlenketten getarnt haben. Wir eleganten Herrschaften dagegen nehmen lächelnd unsere Eintrittskarten sowie 50 Millionen Reichsmark entgegen und stürzen uns ins Getümmel: Es wimmelt nur so vor weichbehüteten Ganoven, Federboa-Divas, Schiebermütze tragenden Jungs mit Hosenträgern und hochgewachsenen Burlesque-Damen mit verdächtig tiefen Stimmen. Ein Lumpenclown ist unterwegs, rückenfreie Kleider, Wasserwellen, skandalöse Ausschnitte und Po-Dekolletés, wohin man auch blickt. Desweiteren illegales Glücksspiel am Poker- und Blackjack-Tisch, eine Absinth-Bar, verschwiegene Separées, bewegte Bilder, verruchte Abenteuer und zeitgemäße Amusements. So zum Beispiel ein Tanzkurs, zauberhafter Burlesque, Live-Musik und natürlich heiße Tanzmusik vom Grammophon.
Auf der Tanzfläche wird schon bald richtig gefetzt: Unter dem sanften Licht des Kronenleuchters wirbeln die Paare umeinander wie wildgewordenen Kometen. Vermutlich sind an diesem Abend alle Könner des zeitgenössischen Tanzes versammelt, dann da wird geswingt, gebounced und getriple-stepped, was das Zeug hält. Schon allein vom Zuschauen wird einem ganz beschwingt im Kopf.
Doch beim Tanzkurs bin ich (wie üblich) schon vorm ersten Schritt verloren und nach etlichen Stunden auf der Tanzfläche schmerzen meine Füße in den neu-alten Schuhen, als trüge ich diese bereits seit 1920.
Übergriffigen Herren wird damenhaft Einhalt geboten: Heute Abend bin ich eine Lady. Nur weil ich grüne Fee intus habe – Absinth schmeckt bei weitem nicht so zauberhaft, wie ich dachte – und hier Sinnlichkeit und Ästhetik zelebriert werden, lass ich mich doch nicht von einem 1920er Original becircen. Mein entrüstetes „So behalte er seine Hände bei sich!“ wirkt tatsächlich: Der Gigolo wird wieder zum Gentleman und serviert mir umgehend ein besänftigendes Prickelwasser.
Man merke also: Zeitreisen sind nicht nur äußerst ergiebig für Kleider- und Plattenschrank, sondern auch für die Manieren. Nur die Füße haben zu leiden. Aber das Leben ist eben kein Ponyhof, schon gar nicht in den Goldenen Zwanzigern.