Gerockt, nicht geschüttelt #6: „Kreuzberger Walzer“ oder „Berliner Polka“, wer „noch einen Koffer in Berlin“ hat, kennt sie beide. Vermutlich gibt es über keine deutsche Stadt so viele Lieder wie über die Hauptstadt: Nicht nur „in Rixdorf is Musike“, sondern die ganze Stadt ist voll von Musikern und ihren mehr oder minder freiwilligen Zuhörern.
Von Marlene Dietrich über Udo Lindenberg und Frank Zappa bis Peter Fox haben eine Menge namhafter Künstler das „Dicke B“ an der Spree mit Leidenschaft und Sehnsucht besungen. Was man in der Stadt jeden Tag zu hören kriegt, sind allerdings nicht die janz Großen, sondern eher die kleinen Künstler.
Das beginnt schon morgens in der S-Bahn, wenn man zusieht, dass man nicht im selben Wagen mit diesen großgewachsenen, gitarrenbehängten Typen landet, dessen durchtrainierte, russische Opernstimme nicht nur die Scheiben zum Klirren, sondern auch die Trommelfelle sämtlicher Mitfahrer zum Vibrieren bringt. Begabt, begabt, setzen, bitte, und vor allem: Schweigen! Zur morgendlichen Stunde ist mir dann der Bob-Marley-Verschnitt mit verschobener Selbstwahrnehmung lieber, der einen nach ein paar genuschelten Zeilen und halb so viel geschrammelten Akkorden nachdrücklich um einen ordentlichen Obolus angeht. Und sich danach nicht bedankt, aber alternativ ein paar zauberhafte Beschimpfungen auf Lager hat.
Bei diesen beiden Herren weiß man schnell, was man kriegt, und kann den Sitzplatz dementsprechend wählen. Anders ist es mit den Rumänen- bzw. Roma-Orchestern in unterschiedlichen Größen. Mal kriegt man hier Zwanziger-Sound vom Feinsten serviert, dass der ganze Waggon mitswingt, dann wieder ist es ein einzelner „Hit The Road Jack“-Schrubber, bei dem man hofft, er möge mitsamt seiner kläglichen Interpretation an der nächsten Station wieder reinhauen. Mein persönliches Highlight: Eine Doppel-Tröten-Version von „Satellite“. Tut das not, dass das immer noch so überall ist?
Ob „an de Panke, an de Wuhle, an de Spree“, auf Straßen und Plätzen kriegt man da noch mehr geboten: Besonders zu empfehlen ist hier der Mauerpark am Sonntag. Ich bin zwar kein besonderer Fan der hochgelobten Massenkaraoke (was aber am Karaoke an sich liegt, nicht am Mauerpark), aber wenn man beim zwei-Mal-Langhinschlagen mehr geboten kriegt, als auf manchem Festival, weil die Bands nur gerade mal in Steinwurfweite auseinander sitzen, bin ich begeistert. Ob das ein selbstgebautes Dreifach-Didgeridoo aus Abflussröhren ist, eine ukrainische Folk-Ska-Punk-Band namens Cosmonautix, eine Wasserglas-Performance, Weltmusik mit Harfe, Hang und Geige oder Bluesrock im großen Kreis – ich bin glücklich.
Und wenn es draußen schon so abgeht, dann kann erst recht überraschen, was sich hinter den Hausmauern so ab-spielt: Manchmal fängt es klein an, etwa mit einem Kind, das man bei Freunden hütet und das zu einem sagt: „Entweder ich gehe jetzt an den Computer – was ich nicht darf – oder ich übe noch zehn Minuten Gitarre. Soll ich was vorspielen?“ Und während man noch über „was ich nicht darf“ lacht, hat dieses Kind flugs seine E-Gitarre angebracht und legt ein „Stairway To Heaven“ hin, das Jimmy Page im selben Alter vor Neid erblasst wäre. Mit ein bisschen klääng! und krrrk! dazwischen, aber äußerst respektabel.
Ob klein oder ausgewachsen, unverhofft kommt’s dabei oft: So auch bei einer multikulturellen Party in einem Studentenwohnheim, bei der der schweigsamste Hausgenosse von der sensationshungrigen Mehrheit zu fortgeschrittener Stunde vehement zu ein bisschen Hausmusik gezwungen wurde. Als ihm Handgreiflichkeit angedroht wurden, stand er schließlich auch auf und holte – tatsächlich – ein Cello. Und spielte zwei Lieder, die einen aus der überfüllten, verrauchten Bude mitten ins Universum katapultierten. Wow. Und auch wenn man ein paar Wochen später nichts mehr weiß, keinen Namen und keinen Titel, dann war das doch einer der magischen Momente, wie ihn eigentlich nur Musik schenken kann. So kann er eben auch sein, „der Zauber von Berlin“.