Mit der Fähre nach Stonetown.
Noch ein einziges Mal früh aufstehen! Aber diesmal ja erst um 6 Uhr, denn die Fähre geht ja erst um 7 Uhr. Richtiger Luxus also. Wir verabschieden uns ein bisschen wehmütig von unserem in drei Nächten fast Heimat gewordenen Zimmer 306, legen den Schlüssel ganz leise auf den Rezeptionstisch, um die dahinter schlafender Nachtportierin nicht zu wecken und machen uns durch die erwachende Stadt auf zum Hafen.
Auf der Fähre finden wir einen guten Platz auf dem hinteren Außendeck. Jetzt müssen wir uns nur noch hinsetzen, die hundertste Tüte Cashewnüsse knabbern und zuschauen, wie Dar (und das pechschwarze Smokband über der Küste) immer kleiner wird. Wir schaukeln an Fischerbooten vorbei, an einem kunterbunten Markt auf einem Kai, der so übervoll ist, dass man Angst um die am Hafenrand stehenden Menschen bekommt, und schließlich verschwindet das Land komplett aus unserer Sicht. Nichts zu sehen außer Wasser, Wasser, Wasser. Wir machen also, was wir auf langen Fahrten am besten können: Schlafen. Und da sind wir nicht die Einzigen. Zwischendurch wachen wir immer mal wieder kurz auf, genießen den Ausblick (aufs Nichts) und schlafen weiter.
Nach knapp zwei Stunden haben wir es geschafft: Stonetown, die Hauptstadt von Sansibar kommt in Sicht. Ehemals stolze Kolonialbauten, ein buntes Treiben am Ufer, jede Menge Menschen – und eine ganz aufgeregte C., denn hätte ihr der letzte Urlaub vor drei Monaten nicht Heimatgefühle beschert, wir würden nicht schon wieder hier stehen.
Und auf dem Steg würde nicht Jacob auf uns warten: Ein fein gemachter Massai mit traditionell bunten Shukas, Muschelhosenträgern und Perlenketten. Da gucken die Touristen und die beiden Mzungus strahlen. Und Jacob auch.
Vor lauter Wiedersehensfreude und Rucksacktragen vergisst er sogar seinen wertvollen Stock – und ohne den läuft er quasi nackig durch die Gegend. Als ihm das auffällt, werden C. und ich kurzerhand unter einem Baum auf einer Bank abgesetzt. Pole pole, Jacob geht seinen Stock holen und wir lassen uns erst einmal eine Begrüßungskokosnuss schmecken: Zuerst schlägt der alte Mann, der sie verkauft, grob die grüne Schale ab, dann bohrt er ein Loch, damit wir die Milch trinken können. Anschließend schält er uns das frische Fleisch heraus.
Währenddessen plaudert C. ganz locker in Gebärdensprache mit einem Gehörlosen über die Spicetouren, die auf der Gewürzinsel Sansibar angeboten werden.
Als Jacob samt Stock wieder aufgetaucht ist, wandern wir zum zentralen Busbahnhof. Ohne (und vermutlich auch mit) Stadtplan hätten wir uns allein vermutlich nie so schnell durchgefunden – obwohl, eigentlich muss man nur dem Gestank nachgehen. Denn am Busbahnhof sind auch die Verkaufsstände der Metzger, bei denen das Fleisch blank und blutig auf den Tischen liegt oder an Haken baumelt. Auf die meisten Stücke scheint zwar nicht die Sonne und oft wedeln Kindern mit einem Pappstück nach Fliegen, aber der Geruch nach Verwesung ist dennoch außerordentlich einprägsam.
Witzigerweise wird hier das allseits beliebte Prinzip Plastiktüte ad absurdum geführt: Im Supermarkt musste ich während der ganzen Reise unter ungläubigen Blicken beinahe darum kämpfen, meine Einkäufe in meine „jute Tasche“ zu stecken. Hier werden die blutigen Fleischbrocken ganz selbstverständlich über die Schulter geworfen und plastefrei heimgetragen.
Aber zurück zum Bus, bzw. den „dala dala“ genannten Kleinbussen oder Lastwagen mit überdachter Ladefläche. Theoretische Anzahl der Sitzplätze: etwa 18; tatsächliche Kapazität: schauen wir mal. Reissäcke passen in unüberschaubarer Zahl hinein, außerdem lässt es sich auf Kanistern zwischen den Sitzreihen hervorragend reisen und eigentlich passt immer noch ein am Straßenrand Wartender hinein. Oder zwei.
Zwischen afrikanischen Mamas samt Kleinkindern und stoisch blickenden Altherren machen wir beiden Mzungus und der Massai sich auf den Weg nach Paje auf der anderen Inselseite. Als an einer „Haltestelle“ drei weitere Massai zusteigen, gibt es ein Riesenhallo, und die Atmosphäre im Auto enthalt wieder ein klein wenig mehr Schweißgeruch und etwas weniger Sauerstoff. Ich habe einen Platz am Fenster ergattert, kann also Sonnenwärme und Fahrtwind genießen – und das Schauspiel der Sterne vor meinen Augen. Vor Hunger, denn immerhin gab es zum Frühstück nur ein paar Nüsse und nichts Frittiertes.
Wir fahren durch kleine Dörfer und kommen an einem kleinen Nationalpark vorbei, sehen aber keine der auf Schildern angekündigten Affen. Nach einer Dreiviertelstunden Fahrt bin ich sehr froh als wir ankommen und in der hier beträchtlichen Mittagshitze den Weg zum Ndame Beach Hotel hinter uns gebracht haben.
Die schönste Postkarte meines Lebens.
Und hier geht das Inselabenteuer erst los: Sansibar. Man stelle sich die kitschigste Postkarte vor, die man in seinem Leben jemals gesehen hat. Türkisblaues Meer. Endloser, weißer Sandstrand. Palmen. Kleine Hütten unter den Palmen. Mit blühenden Hibiskusbüschen davor und geschnitzen Himmelbetten mit orange gesäumten Moskitonetzen darin.
Und in genau so einer Hütte wohnen wir.
Rucksäcke abwerfen, juchhu-rufen und im Bikini an den Strand flitzen ist eins. Im Vorbeifliegen begrüßen wir noch schnell D. aus Bremen, die auf Sansibar ein Forschungsprojekt zur Nachhaltigkeit von Korallenriffen (oder so) betreibt, aber das ausführliche Gespräch muss bis nach unserem dringend benötigten Bad warten. Und das Wasser ist perfekt. Jetzt im „Winter“ hat es angenehme 25 Grad, nicht mehr Badewannentemperatur. Wunderbar.
Es ist Ebbe, das Wasser ist glasklar und salzig, wir können etwa drei Kilometer vor der Küste sehen, wie sich die Wellen am Korallenriff brechen, hier am Strand ist alles still. Ich kann’s nicht fassen. Ich kann so viel Schönheit und Ruhe und fremde Welt einfach nicht fassen!!
Niemals, dachte ich, würde ich in meinem Leben wieder verreisen. Und jetzt stehe ich hier, vor Tansania, vor Sansibar, in grünblauer Weite, schaue auf einen Strand, wie er weißer nicht sein könnte, und lasse mir von der Sonne den ersten Sonnenbrand meines Lebens auf den Rücken brennen. Unglaublich. Unfassbar schön. Ich muss immer wieder innehalten und schauen.
Wir plaudern mit D., die genug hat vom Leben in der Fremde, und später treffen wir Jacob, den Massai, und seinen Freund Frank wieder. Große Wiedersehensfreude und ein langer Strandspaziergang. Mit Muschelnsammeln natürlich, ein bisschen Massai lernen (Suaheli konnte ich ein bisschen behalten, aber Massai ist komplett weg) und Deutsch lehren. Alles, was bei Frank hängenbleibt, ist: Isch aissa Frank. Jacob kann das sehr viel besser, aber „isch aissa“ wird der running gag des Tages.
Der Massai-Gruß oder Warum wir Zwillinge sind.
Außerdem finden C. und ich heraus, warum wir uns so gut verstehen, und zwar als Frank und Jacob uns den typischen Massai-Handschlag zeigen. Dabei wird der Daumen des Gegenübers umfasst und über dessen Handrücken mit den Fingern geschnipst. Tja. Niemand schnipst mit dem Ringfinger. Niemand. Nur C. und ich. Natürlich, wie sollte es anders sein. Wir sind eben sowas wie Eins. Wir haben in den letzten acht Tagen gleichzeitig Hunger gehabt, sind gleichzeitig müde und menschenabweisend geworden, haben uns blind verstanden und unter einer Decke geschlafen. Wie das unter Schnipszwillingen eben ist.
Ich weiß gar nicht mehr… machen wir in diesen unwirklich schönen ersten Stunden noch etwas, außer hollywoodschaukelnd das Glück dieses Strandes zu genießen, D. in ihrem Heimwehwut ein bisschen aufzurichten und anzustacheln („ich will keinen Spaß haben! Geht mir weg, ich hab kein‘ BOCK!“) und noch mehr am Strand spazieren zu gehen? Vielleicht schlafe ich zur Abwechslung ein bisschen.
Abends gehen wir mit D., die fließend Suaheli spricht, und den beiden Massai zum Essen ins Dorf. Auf der Veranda der ersten Essstube (ich weiß immer noch nicht, wie ich diese offenen Küchen in kahlen Hütten nennen soll) steht ein großer Tisch, darauf Teller mit Chipsi, Frisch und Frittiertem (endlich!). D. prüft eine der Fischhälften, aber als sie hört, was sie dafür zahlen soll, feilscht sie wie ein Rohrspatz und lässt sie schließlich verächtlich wieder fallen. So funktioniert das hier also. Anfassen, prüfen, feilschen, hinwerfen – entweder auf den eigenen Teller oder auf den, von dem es kommt.
Wir essen hungrig und spazieren weiter durch den Ort. Auf einem anderen Hof, auf dem vorn ein Feuer brennt und hinten die Füße knieender Beter in einer Moschee zu sehen sind, kaufen wir uns ein paar Fleischspieße und Obst. Und herumsitzen, Orangenkerne und unverdauliche Sehnenfetzen in die Gegend spucken und dabei mit D.-typischem Highspeed Land, Liebe und Leute diskutieren ist mehr als entspannend.
In den ersten zwei Tage Tansania fühlte ich mich, als würde ich bei einem falschen Schritt vom Rand der Landkarte fallen, aber jetzt fühle ich mich wohl. Mit allem. Mit C., D., Jacob und Frank. Mit dieser Reise und den Leuten, die ich beinahe nie kennengelernt hätte.
Die UnsichtBar und der Sextourismus.
Und von denen ich – plopp! – heute Abend auch nicht mehr viel sehen werde: Stromausfall!
Also gucken wir ein bisschen überwältigend milchweiße Milchstraße und gehen dann in eine stockfinstere Bar unter freiem Himmel. Hier geht der normale Betrieb weiter: Leuchtende Handydisplays zeigen an, wo schon jemand sitzt, und irgendwann gibt es sogar eine Kerze.
Apropos Handys: Sie sind überall. Und wenn etwas ein paradoxer Anblick ist, dann ist dies ein traditionell gewandeter Massai auf einer Hollywoodschaukel am Strand, der gerade telefoniert. Aber gut.
Jetzt erzählt uns Frank mit Hilfe der übersetzenden D. ein langes Massai-Märchen über die Löwenjagd. Ein am Tisch sitzender Mann mischt sich in unsere Unterhaltung ein, man kriegt immer mal wieder von irgendwoher eine Hand irgendwohin gelegt, die man wegschiebt und deren Besitzer darüber kichert wie ein ertapptes Kind, und „isch aissa“ ist immer noch zum Lachen.
Am Ende des Abends bestehen die Herren Krieger auf ordnungsgemäßes Heimbringen und eine sehr europäische Abschiedsumarmung, bei der D. halblaut schimpft, dass sie sich hier europäische Sitten zu Eigen machen.
Ja, das tun sie, denn ich habe drauf geachtet, aber viel Berührungen habe ich auf unserer Reiserei nicht gesehen. Respekt ja, Anfassen nein. Aber die Touristinnen sehen das hier offenbar ein bisschen anders. So eine shukagewandete Kerbe im Bettpfosten ist scheinbar etwas Erstrebenswertes, zumal sie das Messer zum Kerben auch immer dabei hat. Und so wird man als Weißhautträgerin ruckzuck angefasst, und der Weg von der Schulter bis zum Po ist kurz. Weist man das Ganze freundlich zurück, wird amüsiert gekichert, abgelassen und der Griff nach einer halben Stunde erneut getestet.
Trotzdem, wir haben eine Menge Spaß mit Jacob und Frank. Zudringlichkeiten ihrerseits rechtfertigen Kitzeln unsererseits und es klingt nun mal nichts so froh wie Massai-Lachen. Wer schon mal so einen würdevollen Krieger kichernd und sich windend über einen Strand gejagt hat, weiß, wovon ich spreche.
Aber für heute Abend reicht es uns. Ab ins Himmelbett. Morgen wird kein Wecker gestellt.